Diesen Monat möchte ich gerne zwei Beispiele von sog. ‚Selbstversorgersiedlungen‘ im Bezirk vorstellen, die vor allem in der Zwischenkriegszeit den Bewohner*innen eine möglichst autarke Versorgung ermöglichen sollten. Dabei handelt es sich um zwei Projekte mit ähnlichem Konzept in Bezug auf den halb-öffentlichen und privaten Bereich, für welche dieselben Architekten verantwortlich zeichneten.
Zu Beginn möchte ich kurz auf diese Architekten und ihre jeweiligen Konzepte eingehen, um auch die damalige sozialpolitische Ausgangsposition besser veranschaulichen zu können. Franz Kaym (1891-1949) und Alfons Hetmanek (1890-1962) hatten beide bei Otto Wagner an der Akademie der Bildenden Künste studiert [1] und betrieben seit dem Jahr 1920 ein gemeinsames Architekturbüro. Beide Architekten hatte sich bereits seit 1919 verstärkt mit Überlegungen zur kostengünstigen, serienmäßigen Errichtung von Einfamilienhäusern mit dazugehörenden Gärten beschäftigt, wie sie später in den beiden Projekten „Trautes Heim“ (11., Lindenbauergasse) sowie „Siedlung Weißenböckstraße“ (11., Weißenböckstraße) umgesetzt werden sollten. [2] Der Grundgedanke beider Anlagen bestand darin, nach Ende des Ersten Weltkrieges den Menschen eine Möglichkeit anzubieten, durch kleine Häuser mit großzügigen Gärten zu bereits genannter autarker Selbstversorgung zu verhelfen. [3] In den Gärten konnten einerseits Obst und Gemüse für den eigenen Bedarf angebaut, andererseits aber auch kleinere Tiere wie Hühner, Kaninchen oder Hasen gehalten werden.
Straßenschild, Siedlung "Trautes Heim".
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Heutige Luftbildaufnahme der Siedlung „Trautes Heim“.
Bildnachweis: Google Maps 2025.
Grundriss der Siedlung „Trautes Heim“. Elf Doppelhäuser mit großzügigen Gartenflächen sind um einen länglichen Anger angelegt.
Bildnachweis: Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band 3, S. 301.
Vor allem aus der Vogelperspektive hat sich diese Besonderheit deutlich sichtbar erhalten, (siehe Luftbildaufnahme) von den ursprünglichen elf kleinen Doppelhäusern mit einheitlichem Pachtgrund [5] ist jedoch kaum noch etwas vorhanden,[6] heute befindet sich hier eine Kleingartensiedlung. Die ursprüngliche Anlage einer einzelnen Liegenschaft umfasste neben der Wohneinheit auch Anbauten wie Durchgang, Klosett, Veranda, Kleintierstall und Schuppen. [7] Eine auf frühere Zeiten verweisende, wenn auch etwas anders gelagerte Tradition hat sich in Form des hier befindlichen „Airedale Terrier- und Colliezuchtvereins Wiener Stern“ [8], erhalten, der vielleicht noch ein wenig an vergangene Tage erinnern mag.
Luftaufnahme Weißenböcksiedlung. Anlage der Selbstversorger- (Petzoldgasse/Reischekgasse/ Wilhelm-Kreß-Platz/ Weißenböckstraße) sowie der Cottage-Mehrparteienhäuser entlang der Simmeringer Hauptstraße (Nordöstlicher Straßenzug).
Bildnachweis: Google Maps 2025.
Etwas anders liest sich die Geschichte der „Siedlung Weißenböckstraße“, hier entstand ab 1923 in zwei Abschnitten ein Ensemble von 71 nicht unterkellerten Häusern mit angeschlossenen Stall- und Wirtschaftsgebäuden und einer Nutzfläche von je rund 350 m². [9] Ursprünglich geplant waren an dieser Stelle Siedlungshäuser für Straßenbahnbedienstete und Beamte des Gaswerks, da jedoch die Gemeinde Wien das Projekt übernommen hatte, wurde auch hier eine Selbstversorger-Siedlung anlässlich der prekären Ernährungslage in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg realisiert. [10]
Grundrisse der Reihenhäuser mit Wohnbereich, Stall und Garten.
Bildnachweis: Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band 3, S. 300.
Weißenböcksiedlung, Wilhelm-Kreß-Platz um 1924.
Bildnachweis: Bezirksmuseum Simmering.
Weißenböcksiedlung, ebenerdige Doppelhaushälften mit Mansardenzimmer und Vorgärten, heutige Ansicht.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Wie auf der Luftaufnahme sehr schön zu sehen ist, befanden sich straßenseitig eher klein dimensionierte Vorgärten, während die tatsächlichen Nutzflächen für Obst- und Gemüseanbau sowie Kleintierhaltung hinter den Häusern angelegt waren und in dieser Anordnung einen zusammenhängenden Grünbereich aus angerartigen Plätzen und Wirtschaftswegen bildeten. Noch heute sind in dem einen oder anderen dieser Gärten Spuren von Kleintierhaltung zu finden, wie z. B. ein Freistall für Meerschweinchen, wenngleich auch nicht mehr unter dem Aspekt der Selbstversorgung. Bei genauerer Betrachtung lässt sich jedoch der ursprüngliche Not-/ Behelfscharakter dieser unter Denkmalschutz stehenden Anlage [11] noch gut nachempfinden.
Weißenböcksiedlung, Mehrparteien-Wohnblock im Cottage-Villenstil.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Erst die 1927/28 errichteten Häuser der Anlage entlang der Simmeringer Hauptstraße bauen auf anderen Überlegungen auf. Hier finden sich 56 Wohneinheiten, jedoch ohne Stallungen und Nutzgärten, im Sinne einer bereits städtischen Wohnsiedlung. [12] Das Konzept dieser Anlage schließt an jenes anderer Gartenstädte mit ihren zwei- bis dreigeschoßigen Mehrparteienhäusern an, hier wurden etwa auf einen Bauteil vier Wohnungen zusammengelegt. [13] Friedrich Achleitner meinte dazu, dass „durch die Anordnung und teilweise Koppelung der Vierlingshäuser mit niederen Bauten ein überaus reizvolles Ensemble“ entstand, „das durch eine selektive Außenraumnutzung (privat-halböffentlich-öffentlich) noch differenziert wird.“ [14]
Weißenböcksiedlung, Architekturdetails, hier z. B. Balustraden anstelle von Gittern und Rundbögen im Eingangsbereich.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Klinkersteinelemente als Einfassung von Fenstern sowie Rundfenster, Bögen und Terrassen.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Nicht zuletzt durch die auf diesen Aufnahmen sichtbaren architektonischen Elemente der Cottage-Villenkultur mit Erkern, Turmaufbauten, Balustraden, dominierenden Portalen, Terrassen und Dreiecksgiebeln [15] erfuhren die Siedlungsbauten dieser Epoche eine gestalterische Aufwertung, sodass sich deren Bewohner*innen wohlhabenden Villenbesitzern gegenüber ebenbürtig fühlen konnten.
Künstlerisch gestaltete Details in der Architektur.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Einzelne Elemente, wie etwa die gezeigten Gesimse und Klinkerverkleidungen, sind bereits als Hinweise auf die expressionistischen Einflüsse der Kommunalarchitektur der 1920er-Jahre zu sehen, wie wir sie in späteren Beiträgen noch betrachten werden können. [16]
Als ein typisches Gestaltungselement dieser frühen Wohnsiedlungen ist darüber hinaus der öffentliche Raum als Ort für soziale Begegnungen zu sehen, wie er sich einst als eine Art Garten bzw. Park mit Sitzbänken in einem begrünten Bereich präsentierte.
Bildnachweis: AzW (Hg.) Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert, S. 320.
Fritz Tiefenthaler, Zierbrunnen im öffentlichen Bereich, heutige Ansicht.
Bildnachweis: Privatarchiv Pelikan.
Auch heute noch befindet sich im Zentrum der Anlage dieser öffentliche Bereich mit einem Zierbrunnen von Fritz Tiefenthaler, welcher für den sozialen Austausch genutzt werden kann. Friedrich Achleitner betonte in diesem Zusammenhang die „Reproduktion der idealtypischen Gartenstadtidylle“, die zugleich den Ruhepol der Anlage bildet und damit „eine der schönsten und liebenswürdigsten Anlagen des Wiener Siedlungsbaus“ darstellt.
Die 2023 festgestellten Schäden durch Feuchtigkeit sowie die damit verbundene rasche Evakuierung mehrerer Bewohner*innen dieser Anlage sorgten in diversen Medien für einiges Aufsehen. [17] Zwei Jahre später soll nun endgültig mit der notwendigen Renovierung begonnen werden.
Beitragsersteller: Thomas Pelikan
[1] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[2] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[3] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[4] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Trautes_Heim.
[5] Bundesdenkmalamt, Dehio Wien, X. bis XIX. und XXI. bis XXIII. Bezirk, Horn/ Wien 2017, S. 73.
[6] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Trautes_Heim.
[7] Bundesdenkmalamt, Dehio Wien, X. bis XIX. und XXI. bis XXIII. Bezirk, Horn/ Wien 2017, S.73.
[8] https://www.wiener-stern.com/zucht/examples/index.html.
[9] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Siedlung_Wei%C3%9Fenb%C3%B6ckstra%C3%9Fe.
[10] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Siedlung_Wei%C3%9Fenb%C3%B6ckstra%C3%9Fe.
[11] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Siedlung_Wei%C3%9Fenb%C3%B6ckstra%C3%9Fe.
[12] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[13] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[14] AzW (Hg.), Architektur in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert, S.320.
[15] https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Siedlung_Wei%C3%9Fenb%C3%B6ckstra%C3%9Fe.
[16] https://www.wienerwohnen.at/hof/58/Wohnsiedlung-Weissenboeckstrasse.html.
[17] https://wien.orf.at/stories/3215636/, bzw. https://www.meinbezirk.at/simmering/c-lokales/mieter-harren-seit-19-monaten-in-ersatzwohnungen-aus_a7138545.
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